Zwangseingriffe

Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und weitere rechtliche Zwangsmaßnahmen

Mit der Machtübernahme Hitlers 1933 begann die rasche und radikale Umsetzung eugenisch-rassistischer Maßnahmen durch die NS-Regierung. Die NS-Propaganda zielte darauf ab, die Bevölkerung ideologisch für rassenhygienische Maßnahmen zu gewinnen, um den geplanten Verbrechen des Regimes den Weg zu bereiten.

Mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) wurden wenige Monate nach der Machtübernahme die rechtlichen Weichen gestellt. Das Gesetz ermöglichte Zwangssterilisierungen bei Menschen mit bestimmten „Erbkrankheiten“, wobei der Begriff bewusst weit gefasst war, um auch sozial unangepasste Menschen zu erfassen. Viele, die als arm, „asozial“, „deviant“, homosexuell oder in irgendeiner anderen Form als unangepasst galten, wurden dadurch Opfer medizinischer Zwangseingriffe.

Insgesamt wurden etwa 350.000 bis 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Tausende, darunter vorwiegend Frauen, starben infolge der Eingriffe. In Österreich, wo das Gesetz erst 1940 eingeführt wurde, verlief die Entscheidung zwischen Zwangssterilisation und Tötung parallel, da die Mordaktionen im Rahmen der NS-„Euthanasie“ bereits begonnen hatten.

Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 entwickelte sich Bregenz zu einem Zentrum der eugenisch-rassistischen Verfolgung im Gau Tirol-Vorarlberg. Das Gesundheitsamt in Bregenz und das Sanatorium Mehrerau spielten eine zentrale Rolle bei Zwangssterilisierungen und anderen gesundheitspolitischen Zwangsmaßnahmen. Chirurg Dr. Walter Vogl führte am Sanatorium von 1940 bis 1944 insgesamt 93 Zwangseingriffe durch, was etwa 72 Prozent aller Eingriffe in Vorarlberg entsprach.

Dass auch in Bregenz das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) über die gesetzliche Verpflichtung hinaus umgesetzt wurde, zeigt das Beispiel eines gehörlosen Paares. Willy Strähle und Marlene Jordan wollten heiraten. Das Standesamt Bregenz verlangte dafür eine „Eheunbedenklichkeitsbescheinigung“, die von den Gesundheitsämtern nach einer ärztlichen Untersuchung ausgestellt wurde, wenn keine „Erbkrankheit“ vorlag bzw. bei Vorliegen einer Erbkrankheit eine Sterilisierung durchgeführt worden war.

Der Leiter des Gesundheitsamts, Dr. Theodor Leubner stellte die Ehegenehmigung nach vollzogener Sterilisierung Strähles in Aussicht. Zu diesem Zeitpunkt war Marlene Jordan schwanger. Als Dr. Leubner von der Schwangerschaft erfuhr, stellte er trotz erfolgter Sterilisierung Willy Strähles kein „Ehetauglichkeitszeugnis“ aus. Stattdessen wurde Marlene Jordan zum Schwangerschaftsabbruch und zur Sterilisierung gezwungen. Die Eingriffe fanden am Stadtspital Bregenz statt. Es gab weder eine gerichtliche Erlaubnis, noch hatte der operierende Arzt, Dr. Julius Arnold, die staatliche Legitimierung für solche Eingriffe. Dieses Beispiel zeigt, dass auch in Bregenz Behörden und Ärzte sich über die bereits menschenverachtende Gesetzeslage hinwegsetzten, um bei den gesundheitspolitischen Verfolgungsmaßnahmen dem „Führer entgegen zu arbeiten“. 

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Walter Vogl wurde am 10. August 1897 in Innsbruck geboren und kam 1934 als Chirurg und Orthopäde nach Bregenz, um dort eine Praxis in der Rathausstraße 37 zu eröffnen. Kurz darauf übernahm er die Leitung des Sanatoriums Mehrerau. Nach der Einführung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Januar 1940 in der „Ostmark“ ermächtigte das Reichsinnenministerium Vogl zur Durchführung von Sterilisationen an Frauen und Männern. Im Sanatorium wurden unter ihm 93 nachgewiesene Zwangseingriffe durchgeführt, was 72 Prozent aller Eingriffe in Vorarlberg entsprach.

Politisch trat Vogl wenig in Erscheinung. Wie die meisten Ärzte war er ab 1942 Mitglied im Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund. Schilderungen von Vogl selbst zu seiner Mehrerauer Zeit und Rolle bei diesen Eingriffen sind nicht überliefert. In einem Erinnerungstext seiner Assistentin Luise Moritz und seines Nachfolgers Julius Leisner wird jedoch angedeutet, dass Vogl oft „schwere Entscheidungen“ zu treffen hatte:

„Wie oft mag Dr. Vogl einsam, auf sich alleine gestellt, schwere Entscheidungen getroffen haben. Da konnte keiner ihm die Verantwortung abnehmen. Seinen Entschluss konnte er auch nicht mit den Patienten teilen, um ihn [sic] nicht in der oft aussichtslosen Situation jeglicher Hoffnung zu berauben.“

Diese „schweren Entscheidungen“ beziehen sich wohl auf die Zwangseingriffe, die er für das NS-Regime durchführte. Vogl blieb bis zu seiner Pensionierung 1970 Leiter des Sanatoriums Mehrerau und kehrte danach nach Innsbruck zurück, wo er 1984 verstarb. 

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Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Rassenhygienische Propaganda. Von der Rassenhygiene zum Massenmord (https://www.doew.at/erkennen/ausstellung/1938/von-der-rassenhygiene-zum-massenmord/rassenhygienische-propaganda).
Ina Friedmann, Umsetzung und Durchführung der Zwangseingriffe im Gau Tirol-Vorarlberg, in: Ina Friedmann/Dirk Rupnow (Hrsg.), Zwangssterilisierungen und „freiwillige Entmannungen“ in Tirol und Vorarlberg 1938-1945 (Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs 77), Innsbruck 2024, S. 45−213.
Gernot Kiermayr, Krieg gegen Arme, Kranke, „Behinderte“ und „Asoziale“. Die Verfolgung von als sozial „deviant“ oder „krank“ kategorisierten Menschen in Bregenz in der NS-Zeit, in: Stadtarchiv Bregenz (Hrsg.), Nationalsozialismus erinnern (Bregenz. Schriften zur Stadtkunde Band 2), Bregenz 2021, S. 8−55.
Gernot Kiermayr, Der Chirurg am Volkskörper. Zu Lücken in der öffentlichen Erinnerung an das Sanatorium Mehrerau (bei Bregenz) und dessen Chirurgen Walter Vogl, in: Werner Bundschuh (Hrsg.), Menschenverächter. Vorarlberger als Akteure bei Entrechtung und Vernichtung im Nationalsozialismus (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlberg 17), Bregenz 2022, S. 151−159.
Erich Meyer/Franz Karl Zimmermann, Lebenskunde. Lehrbuch der Biologie für höhere Schulen (Band 3), Wien 1941.
Luise Moritz/J. O. Leisner, Dr. Walter Vogl: 1937-70, in: Bregenzer Autorengemeinschaft (Hrsg.), Bloß it vergeassa. Band VII, Bregenz 1997, S. 79-87, hier S. 85.
Stadtarchiv Bregenz, NS-Akten 505 und 522.
Volker Strähle, Zwangssterilisation und Zwangsabtreibung als Teil der eigenen Familiengeschichte. Willy Strähle und Marlene Jordan. In: Ina Friedmann/Dirk Rupnow (Hrsg.), Zwangssterilisierungen und „freiwillige Entmannungen“ in Tirol und Vorarlberg 1938-1945 (Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs 77), Innsbruck 2024, S. 491−508.

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