NS-„Euthanasie“
Die Vernichtung "lebensunwerten Lebens" im Nationalsozialismus
Der Begriff „Euthanasie“ ist aufgrund der NS-Verbrechen an Kranken und Menschen mit Behinderung bis heute problematisch. Ursprünglich bedeutete Euthanasie „guter Tod“, im Sinne eines erleichterten und möglichst schmerzlosen Sterbens. Die Nationalsozialisten missbrauchten den Begriff als Rechtfertigung für den systematischen Massenmord an (vermeintlich) chronisch und psychisch Kranken, Menschen mit Behinderung und Arbeitsunfähigen, die sie als „Ballastexistenzen“ und „unnötige Esser“ bezeichneten. Schätzungsweise 200.000 bis 300.000 Menschen, darunter auch Kinder, wurden im Rahmen der NS-„Euthanasie“ ermordet.
In der historischen Forschung werden im Zusammenhang mit den Mordaktionen im Rahmen der NS-„Euthanasie“ folgende Unterscheidungen getroffen:
- Kindereuthanasie: Etwa 5.000 Kinder wurden in speziellen „Kinderfachabteilungen“ ermordet, viele weitere Kinder im Zuge der „Aktion T4“.
- Morde in besetzten Gebieten: Mit Kriegsbeginn 1939 begann auch die Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in den besetzten Gebieten. Diese erfolgte oft durch Gaskammern und mobile Gaswagen.
- "Aktion T4": In sechs eigens eingerichteten Tötungsanstalten (Bernburg an der Saale, Brandenburg an der Havel, Grafeneck bei Reuthlingen, Hadamar, Hartheim bei Linz, Sonnenstein bei Pirna) wurden von 1939 bis 1941 etwa 70.000 Menschen systematisch ermordet.
- Dezentrale Euthanasie: Nach der offiziellen Beendigung der „Aktion T4“ 1941 wurden die Morde bis 1945 in Heil- und Pflegeanstalten fortgesetzt.
Diese Verbrechen sind ein düsteres Kapitel der Geschichte und verdeutlichen den Missbrauch des Begriffs „Euthanasie“ durch das NS-Regime.
Die „Aktion T4“ war eine Mordaktion der Nationalsozialisten, bei der zwischen 1939 und 1941 etwa 70.000 Menschen als „lebensunwert“ ermordet wurden. Diese systematischen Tötungen betrafen Patient:innen und Bewohner:innen von Heil- und Pflegeanstalten sowie Versorgungshäusern. Die Organisation der Tötungsaktion erfolgte durch die „Kanzlei des Führers“, mit einer Zentrale in der Tiergartenstraße 4 (T4) in Berlin, nach der die Aktion benannt ist. Tarneinrichtungen wie die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ und die „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ (Gekrat) wurden geschaffen, um die Geheimhaltung zu wahren und Adolf Hitler nicht direkt mit den Morden in Verbindung zu bringen.
In Vorarlberg wurden im Februar und März 1941 über 200 Menschen aus der „Landesheil- und Pflegeanstalt“ Valduna und anderen Einrichtungen in die Tötungsanstalt Hartheim deportiert und dort ermordet, darunter mindestens 24 Bregenzer:innen. Der erste Transport von der Valduna nach Hartheim mit 132 Insass:innen erfolgte am 10. Februar 1941. Darunter waren 14 Bregenzer:innen: Berta Dietrich, Paul Eppler, Viktor Fritz, Franz Josef Geiger, Maria Gorbach-Weber, Herta Hirsch, Lorenz Kahn, Anna Knöpfler, Georg Meyer, Veronika Plattner, Wilhelm Rauch, Maria Rehor, Sophie Toth und Anna Tripp. Am 17. März 1941 ging ein zweiter Transport mit 88 Personen von der Valduna nach Hartheim. Darunter befanden sich fünf Bregenzer:innen: Theodor Anwander, Eckart Ehringer, Anna Graziosa Giacomelli, Amalie Hutle, Wilhelmine Agatha Poschinger.
Weitere Opfer aus Bregenz wurden in die Heil- und Pflegeanstalt Hall verlegt, wo viele aufgrund von Versorgungsmängeln starben. Johann Armin Müller und Georg Sohler starben in der Tötungsanstalt Grafeneck.
schließenIm August 1939 führte das NS-Regime eine Meldepflicht für Kleinkinder bis drei Jahren mit geistigen und körperlichen Behinderungen ein. Ärzte und Hebammen mussten betroffene Kinder an die Gesundheitsämter melden, die die Informationen an den „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ in Berlin weiterleiteten. Ein Gutachterausschuss entschied dann, ob ein Kind in eine „Kinderfachabteilung“ eingewiesen wurde, wo es meist durch Nahrungsentzug oder Überdosierung von Medikamenten ums Leben kam. Insgesamt fielen etwa 5.000 Kinder dieser „Kinder-Euthanasie“ zum Opfer.
Aus Bregenz stammen mindestens vier Meldungen von Kindern beim „Reichsausschuss“. Zwei von ihnen, Karin Fleisch und Herta Böckle, wurden in der „Kinderfachabteilung“ Kaufbeuren in Bayern ermordet. Beide Kinder starben 1944 an einer Überdosis Medikamente. Charlotte M. wurde nicht einmal zwei Monate nach ihrer Geburt in der „Kinderfachabteilung“ der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München durch Vernachlässigung und schlechter Versorgung zu Tode gebracht. Das vierte Kind, Hannelore Sieber, konnte durch den Widerstand ihrer Eltern überleben, die sich dem Druck des Regimes widersetzten.
Es ist davon auszugehen, dass es noch weitere Bregenzer Kinderopfer der NS-„Kinder-Euthanasie“ gibt.
schließenIrmfried Eberl, geboren am 8. September 1910 in Bregenz, war ein österreichischer Arzt und überzeugter Nationalsozialist, der eine zentrale Rolle im NS-„Euthanasie“-Programm und Holocaust spielte. Nach seinem Medizinstudium in Innsbruck zog Eberl 1936 nach Deutschland, wo er ab 1939 aktiv an der „Euthanasie“ beteiligt war. Er leitete die Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg, wo jeweils etwa 9.000 Menschen ermordet wurden, darunter viele Kinder.
1942 wurde Eberl Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka, wo unter seiner Leitung in nur einem Monat etwa 280.000 Menschen ermordet wurden, was knapp fünf Prozent der im Holocaust ermordeten Juden waren. Eberl war der einzige Arzt, der ein Vernichtungslager während des Holocausts leitete. Wegen chaotischer Zustände im Lager wurde er Ende August 1942 abgesetzt.
Irmfried Eberl gilt aufgrund seiner Beteiligung an der „Aktion T4“ und dem Holocaust als einer der größten Massenmörder der Geschichte. Am 16. Februar 1948 beging er in seiner Gefängniszelle in Ulm Selbstmord.
schließenArchiv der Diözese Feldkirch (Hrsg.), „Das Nazi-Interregnum in der Valduna vom 13.3.1938 – 3.5.1945“. Die Aufzeichnungen des Leiters der Wohltätigkeitsanstalt Valduna, Johann Müller (1868-1950), (Band 6 der Schriftenreihe des Archivs der Diözese Feldkirch, bearbeitet von Thomas Albrich), Feldkirch 2017.
Archiv des Bezirks Oberbayern, Patientenakten Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, Akt Hannelore Sieber und Akt Charlotte M.
Gedenkort Hall, Historischer Hintergrund. Der Mord an psychisch und geistig beeinträchtigen Menschen in der NS-Zeit (https://www.gedenkort-hall.at/home.php).
Gernot Kiermayr, Krieg gegen Arme, Kranke, „Behinderte“ und „Asoziale“. Die Verfolgung von als sozial „deviant“ oder „krank“ kategorisierten Menschen in Bregenz in der NS-Zeit, in: Stadtarchiv Bregenz (Hrsg.), Nationalsozialismus erinnern (Bregenz. Schriften zur Stadtkunde Band 2), Bregenz 2021, S. 8−49.
Meinrad Pichler, Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer. Täter. Gegner. Innsbruck 2012, S. 197-207.
Michael Grabher, Irmfried Eberl. „Euthanasie“-Arzt und Kommandant von Treblinka, Frankfurt am Main 2006.
T4-Denkmal, Die nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde (https://www.t4-denkmal.de/Themen).
Werner Schelling, Sie mussten sterben, weil sie anders waren. Die Bregenzer Opfer der NS-„Euthanasie“, in: Stadtarchiv Bregenz (Hrsg.), Nationalsozialismus erinnern (Bregenz. Schriften zur Stadtkunde Band 2), Bregenz 2021, S. 52−117.
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